Risiko erkennen – Warum der neue KRINKO-Anhang 2 kein Papiertiger ist (Teil 1)
Seit der Veröffentlichung des neuen KRINKO-Anhangs 2 herrscht in vielen Praxen und Aufbereitungseinheiten eine Mischung aus Verunsicherung und Schulterzucken. Wieder ein neues Papier? Wieder mehr Dokumentation? Aber genau hier liegt der Denkfehler: Der Anhang ist kein Verwaltungsakt, sondern eine Handlungsanleitung mit Praxiswert. Er zeigt, dass Risikoerkennung nicht auf dem Papier beginnt, sondern am Waschbecken, im Aufbereitungsraum und in der täglichen Routine. Und: Wer ihn richtig versteht, kann viele typische Beanstandungen bei Begehungen künftig elegant vermeiden.
Was sich wirklich geändert hat – und warum das zählt
Der neue Anhang 2 verschiebt den Fokus von der reinen Klassifizierung hin zur praktischen Risikobewertung. Früher reichte oft die Zuordnung in unkritisch, semikritisch, kritisch – heute verlangt die KRINKO, dass diese Einstufung begründet und im Kontext der tatsächlichen Anwendung erfolgt.
Das bedeutet konkret:
- Semikritisch A ist nicht gleich Semikritisch A.
Eine Vaginalsonde, die täglich mehrfach mit Schleimhautkontakt verwendet wird, erfordert ein anderes Aufbereitungsniveau als ein Spekulum, das nur gelegentlich in Kontakt mit intakter Schleimhaut kommt. - Anwendung, Patientengruppe und Umgebung zählen.
In einer gynäkologischen Praxis mit regelmäßigem Kontakt zu Schwangeren oder immunsupprimierten Patientinnen ist das Infektionsrisiko höher als in einer orthopädischen Praxis.
→ Diese Kontextbewertung fordert der Anhang ausdrücklich. - Dokumentation wird zum Risikoprotokoll.
Es reicht nicht mehr, die Reinigungs- und Desinfektionsmittel aufzulisten. Gefordert ist, warum ein bestimmtes Verfahren gewählt wurde – und wie die Entscheidung risikobasiert zustande kam.
Kurz gesagt: Die KRINKO verlangt keine neue Papierflut – sie fordert nachvollziehbare Entscheidungen mit Fachverstand.
Vom Bauchgefühl zur belegbaren Entscheidung
Viele Einrichtungen haben ihre Aufbereitung nach dem Prinzip „Hat bisher funktioniert“ aufgebaut. Der Anhang 2 beendet dieses Bauchgefühl: Jede Entscheidung muss validierbar und begründbar sein. Beispiel aus der Praxis: Eine Praxis setzt auf manuelle Tauchdesinfektion, weil keine maschinelle Aufbereitung vorhanden ist. Das ist zulässig – aber nur, wenn:
- das Desinfektionsmittel vom Hersteller für das Produkt zugelassen ist,
- die Einwirkzeit und Konzentration nachgewiesen korrekt sind,
- und die Entscheidung dokumentiert ist, warum kein anderes Verfahren (z. B. maschinell oder UV-C-Desinfektion) möglich oder sinnvoll war.
So entsteht eine nachvollziehbare Risikokette, die auch bei einer Begehung hält. Tipp aus dem Alltag: Eine einfache Tabelle im QM-System mit den Spalten „Produkt – Risiko – Verfahren – Begründung – Nachweis“ reicht oft schon, um das KRINKO-Prinzip praktisch umzusetzen.
Das Risiko sitzt nicht im Becken – sondern davor
Ein entscheidender, oft unterschätzter Punkt: Die KRINKO denkt Risiko nicht nur am Medizinprodukt, sondern im gesamten Prozess. Das bedeutet:
- Wenn Personal nicht regelmäßig geschult wird,
- wenn Desinfektionslösungen zu selten gewechselt werden,
- oder wenn Arbeitsflächen nicht kontrolliert werden,
dann ist das Risiko nicht im Gerät, sondern im Ablauf. Viele Prüfer berichten, dass die häufigsten Beanstandungen gar nicht an der Technik liegen, sondern an unklaren Zuständigkeiten oder fehlender Rückmeldung: Wer prüft die Dosierung? Wer dokumentiert den Chargenwechsel? Wer hat die Freigabe erteilt?
Die Botschaft des Anhangs 2 lautet also: „Risiko ist immer ein Prozess – und Prozesse haben Gesichter.“ Deshalb ist Personalqualifikation kein Beiwerk, sondern integraler Bestandteil der Risikosteuerung.
Wie man den Anhang 2 in der Praxis zum Werkzeug macht
- Einstufung mit System: Definiere im QM-System eine feste Vorlage zur Risikobewertung. Beispiel:
-
- - Produktname
- - Kontaktart (intakt, Schleimhaut, steril)
- - Patientengruppe
- - Empfohlene Aufbereitung laut Hersteller
- - Begründung für gewählte Methode
- - Freigabe durch Hygienebeauftragten oder QMB
- Kommunikation fördern:
Der Anhang 2 fordert Teamarbeit – also lieber wöchentlich 10 Minuten für Feedback investieren,
als beim Audit 2 Stunden erklären zu müssen. - Validierung im Blick behalten:
Wenn ein Verfahren regelmäßig überprüft wird, z. B. durch Teststreifen, Logbuch oder Dosierkontrolle,
erfüllt man nicht nur die KRINKO-Forderung, sondern stärkt auch die interne Sicherheit. - Dokumentation leben, nicht archivieren:
Sie ist kein Sammelordner, sondern ein Spiegel der täglichen Praxis.
Eine gut gepflegte Risikobewertung erleichtert jede Begehung und ist gleichzeitig ein Trainingsinstrument für neue Mitarbeitende.
Fazit: Vom Papiertiger zum Praxiswerkzeug. Der informative Anhang 2 ist kein Kontrollinstrument, sondern ein Kompass für sauberes Arbeiten. Er hilft, die eigenen Abläufe kritisch zu prüfen und Entscheidungen nachvollziehbar zu machen – ohne dass die Dokumentation zum Selbstzweck wird. Wer ihn aktiv nutzt, erkennt Risiken früh, vermeidet Prüfungsstress und sorgt letztlich dafür, dass Aufbereitung nicht nur sicher aussieht, sondern es tatsächlich ist. Denn Patientenschutz beginnt nicht erst nach der Desinfektion – sondern mit dem Bewusstsein, warum man etwas so und nicht anders tut.